Gustav Hradil war ein Schulkamerad meines Vaters und die Armut meiner Fiala Großeltern trieb meinen Vater immer hinaus zu Fremden, um dort etwas für den Magen zu ergattern. Die Großeltern wohnten wie auch Herr Hradil im ‚Fasanviertel‘ im dritten Bezirk. Die Großeltern in der Khunngasse 17, Familie Hradil in der Mohsgasse 25.
Die Jugendzeit meines Vaters, die er mit dem Gustl, dem heutigen Herrn Hradil, verbrachte, muss arm und fröhlich zugleich gewesen sein. Zum ersten Mal hörte ich auch von einer meiner Urgroßmütter, Frau Moravetz. Diese Familie wohnte an der rechten Seite der tschechischen Kirche am Rennweg. Diese Nähe zur Kirche äußerte sich auch in einer Religiosität, die auch auf meinen Vater eingewirkt hat. Er war Ministrant und in einem der katholischen Jugendorganisationen der tschechischen Minderheit. Wenn man mit meinem Vater sprach, so klang in vielen seiner Äußerungen eine innere Religiosität mit, deren Wurzel wahrscheinlich durch die damalige Nähe zur Kirche gelegt wurde.
Zur Aufbesserung ihrer leeren Kassen erfanden die Buben ein Nebengeschäft, indem sie am Samstag Vormittag mit ihrem Geld 20-30 Salzgurken kauften und danach diese an der Stadlauer Donaubrücke bei den dort Badenden teurer verkauften. Das verdiente Geld ‚investierten‘ sie danach im Prater.
Ein anderer Lausbubenstreich, der heute praktisch nicht mehr möglich ist, war die Idee meines Vaters. Gegenüber dem Fasanviertel befindet sich das Arsenal aus der Monarchie. In Teilen davon war ein Bierlager einer großen Brauerei untergebracht. Die leeren Bierfässer wurden dort bis zur Neufüllung abgestellt und enthielten je nach Sorgfalt der Wirte eine mehr oder weniger große Restmenge Bier. Die sogenannten ‚Biertippler‘, heute würde man vielleicht ‚Sandler‘ sagen, benutzten diesen Umstand und leerten diese Restmengen sorgfältig aus und kamen so zu einem Schluck Gratisbier. Die Idee meines Vaters war, die Fässer vorher durch gezielte Blasenentleerung in die Fässer deren Inhalte aufzubessern und sich danach aus sicherer Entfernung das Resultat dieser Aktion mitanzusehen.
Die Zuneigung zum Schwammerlsuchen haben wir alle vom Großvater Fiala, der es wieder aus seiner tschechischen Heimat nach Wien mitgebracht hat. Beide, mein Vater Josef und sein Freund Gustl gingen mit Großvater Fiala nach Rekawinkel auf Schwammerlsuche. Offensichtlich war das eine zünftige Schwammerlgegend, denn diese Plätze werden noch heute von meiner Tante Míla gerne besucht. Sie findet dort trotz Großstadtnähe immer noch viele gute Pilze.
In dieser brotlosen Zeit waren die Hradil eine wesentliche Nahrungsquelle für meinen Vater und manchmal wahrscheinlich auch für die ganze Familie Fiala. Mutter Hradil basaß ein Lebensmittelgeschäft im Palais Lobkovitz, unweit des Dorotheums im ersten Bezirk, in der damaligen Tschechischen Botschaft. In diesem Laden gingen viele Tschechen einkaufen und mein Vater war eine zeitlang täglich am Abend im Geschäft, um Restmilch gleich literweise zu verschlingen. Vater Hradil war Milchgroßhändler und belieferte ca. 40 kleine Geschäfte in Wien und darunter auch das Geschäft meiner Kvacek-Großmutter in Simmering.
Mein Vater war während einer Zeit von ca. drei Jahren jeden Abend Gast bei den Hradil. Das Essen muss schon damals zu seinen Hauptinteressen gezählt haben. Wahrscheinlich hat diese Not und dieser Hunger alle Sinne in Richtung Essbares geschärft. Er hatte schon seinen angestammten Sitz-, besser gesagt Essplatz. Es wurde ihm bei den Hradil eine Gastfreundschaft geboten, die ihm als Kontrast zu seinen tristen häuslichen Verhältnissen sehr imponierte. Es musste auch den Hradils gefallen haben, wenn sie dem immer hungrigen Pepi beim Essen zuschauen konnten. Die Freundschaft mit den Hradil erstreckte sich auch auf die Tochter der Hradil, Anežka, die mit meinem Vater dieselbe Klasse besuchte (Gustl war ein Jahr älter) und wie die Leute so reden, waren sie einander, zumindest was die Meinung der Eltern betraf, schon versprochen. Dass dieses Versprechen nicht ganz ohne war, zeigt, dass sogar meine Mutter noch während ihrer Ehe eifersüchtig auf Anežka war. Anežka war nach dem Krieg durch Eheschließung mit einem Tschechen ausgewandert, war aber einige Male bei uns in Wien zu Besuch.
Also die beiden Buben Pepi und Gustl stellten so allerhand an. Der Gipfel war wohl, dass sie auf einem Sportplatz ein Feuer anzündeten, worauf die Tribüne Feuer fing und sie sich auf Grund ihrer lausbubenhaften Schnelligkeit retten konnten. Trotzdem konnten sie ausgeforscht werden und die Polizei kam mitten in der Nacht die Hradil besuchen. Die Prügel, die es da, gleich vor den Augen der Obrigkeit setzte, waren nicht ohne.
Nach Abschluss der Handelsschule arbeitete Herr Hradil bis zum Jahre 1938 bei der Živnostenská Banka/Gewerbebank in der Herrengasse gemeinsam mit ca. 80 anderen Tschechisch sprechenden Angestellten. Bei Machtübernahme durch das Hitler-Regime wurde dieser Tschechische Betrieb (wie auch alle anderen tschechischen Betriebe und auch die tschechischen Schulen) eingestellt und Herr Hradil konnte sich zwischen einer Beschäftigung bei der Wiener Länderbank und einer Arbeitsstelle in Bratislava entscheiden. Er entschied sich – wie die Mehrheit der Angestellten – für eine Beschäftigung in der Tschechoslowakei. Ab diesem Zeitpunkt trennen sich die Wege, der so aneinander geschmiedeten Freunde.
Bei Kriegsende wurden das Haus der Hradil in der Mohnsgasse total, die Khunngasse 17 und besonders die Wohnung der Fiala teilweise zerbombt. Vater Hradil übernachtete einige Nächte in Telefonzellen.
Nach dem Krieg
Gustav Hradil heiratete am 25. Oktober 1948 Radka. Seine Enkelin, Erika hat mir das aus aus ihren Dokumenten herausgesucht, also einen Monat vor der Heirat meiner Eltern. Die Familien blieben trotz Eisernem Vorhang in Verbindung. Sogar ich war zweimal bei den Hradil in der Slowakei: das erste Mal für einen Monat, als Mittelschüler. Das zweite Mal mit Silvia.
Familie Hradil kam mehrere Male in der kommunistischen Ära zu uns nach Wien und wohnte einige Tage bei uns. Mein Vater und Gustav unterhielten sich über Briefmarken. Der Unterschied zwischen beiden war, dass mein Vater keine Briefmarken verkaufte, aber sein Freund Gustav vom Verkauf von Marken seine Auslandsreisen finanzierte.
Herr Hradil wunderte sich über die Undiszipliniertheit meines Vaters, die sich in großer Körperfülle äußerte. Meine Eltern fuhren mit Familie Hradil auch in die Umgebung, es gibt einige Fotos vom Lieblingsberg meiner Mutter, der Rax. Es gab auch Besuche meiner Eltern in der Slowakei.
Mit 17 in der Slowakei
Es muss jener Sommer gewesen sein, in dem ich mit Günter Schranz per Autostop nach Grado fuhr. Und danach vereinbarten meine Eltern mit den Hradil, dass ich einen Monat zu ihnen kommen dürfe. Meine Mutter brachte mich nach Bratislava; dort trafen wir Herrn Hradil und ich fuhr mit ihm mit dem Zug nach Ružomberok.
Die Gegend? Heute würden wir sagen: trist. Damals, mit 17 war’s eine Hetz. Plattenbauten. Die Hradil wohnten im 2. Stock. Die Hradil hatten zwei Söhne: Milan, etwa ein Jahr älter als ich und Petr, etwa so alt wie ich.
Herr Hradil hatte ein Moped und mit dem Moped fuhr er mit mir zum Schwammerlsuchen in traumhafte, flache Wälder. Sonst gab es jedes Wochenende gemeinsame Ausflüge in die Umgebung. Während der Woche mussten Kinder einkaufen gehen. Man kaufte bescheiden ein aber bei raren Dingen, von denen bekannt war, dass sie derzeit zu haben sind. Beispielsweise Toilettenpapier. Von diesen Dingen kaufte man große Mengen, denn man wusste nie, wann wieder eine Lieferung kommt.
Bemerkenswert war die Gleichheit der Arbeitenden. Herr Hradil war kaufmännischer Direktor den Großbetriebs und konnte sich gerade ein Moped leisten. Ein Lackierer, ein einfacher Arbeiter, wohnte einen Stock höher, fuhr aber bereits einen Kleinwagen.
Das war eine kurze Episode im Sommer 1965.
Als dann die Kinder Petr und Milan erwachsen wurden, muss sich das überaus gute Familienklima bei den Hradil geändert haben, denn die Eltern zogen aus und das nicht nur anderswohin im Ort sondern in das mährische Zlín, das damals, in der kommunistischen Ära, Gottwaldov genannt wurde.
Verlassenschaft
Nach dem Tod meiner Mutter im Jahr 1987 und meiner Tante 1988 verbrachten Radka und Gustav Hradil viele Monate in Wien und übernahmen für mich die Aufarbeitung der Verlassenschaft meiner Eltern und meiner Tante Milli.
Ein großes Teilprojekt dieser Verlassenschaft war die Briefmarkensammlung meines Vaters. In überaus sorgfältigen Aufstellungen versuchte Herr Hradil sein Verkäuferglück bei verschiedenen Briefmarkenhändlern und auch im Dorotheum. Der gesamte Verkaufserlös dürfte bei etwa 60.000 Schilling gelegen sein. Es erscheint vielleicht viel, war aber nur ein Bruchteil des Katalogpreises.
PCNEWS-Projekt
Während dieses längeren Beisammenseins erzählte ich Herrn Hradil auch über mein Projekt mit den PCNEWS.
Nach der Ostöffnung, 1989, wurde es einfach möglich, Dienstleitungen in das billigere östliche Ausland auszulagern. Herr Hradil stellte einen Kontakt zu einer Druckerei in Zlín her und ab diesem Zeitpunkt ließ ich die PCNEWS in dieser Druckerei herstellen.
Herr Hradil begleitete die Herstellung der PCNEWS wie, wenn es seine eigen Zeitung gewesen wäre. Die Vorlage waren in dieser Zeit je eine Kuststofffolie pro Seite, bei Farbseite vier Folien pro Seite. Diese Seiten habe ich teilweise selbst gedruckt, teilweise bei einer Firma in der Maroltingergasse herstellen lassen. Herr Hradil holte diese Folien in Wien ab, brachte sie in die Druckerei. Nach Fertigstellung der Ausgabe hing es von meinem Terminkalender ab. Manchmal holte ich die Ausgabe aus der Druckerei aber zuletzt begleitete Herr Hradil einen LKW und brachte die Ausgaben direkt zu Firma CONCEPT in der Baumgasse.
Der Druck war billig aber die Fertigungsqualität war mangelhaft (Seiten fehlten, waren oft falsch zusammengelegt, manchmal waren Seiten unbedruckt…)
Einmal besuchten wir mit Florian Familie Hradil in Zlín. Wir wohnten in einem Hotel, besuchten einen Zoo in der Umgebung. Leider erkrankte Florian (das Übliche, Angina) und wir fuhren etwas verführt wieder nach Hause.
Verschiedene Kinder, verschiedene Enkel
Während all dieser Zeit erzählte mir Herr Hradil immer wieder über die Projekte ihres Sohnes Petr, den anderen Sohn, Milan, erwähnten sie kaum. Woher diese ungleiche Behandlung kam, verstand ich nie. Als Petr ein zweites Mal heiratete und auch einen Sohn bekam, zogen Gustav und Radka wieder zurück zu ihrem Sohn Petr in die Slowakei. Wohl einerseits, um bei der Betreuung des Enkels zu helfen und auch anderseits, um eventuell bei Bedarf selbst betreut werden zu können.
Sonderbarerweise hat sich diese Beziehungs-Unsymmetrie auch bei den Enkelkindern fortgesetzt.
Ich wechselte danach mit dem Druck der PCNEWS zur Wiener Druckerei Holzhausen, die durch einen günstigen Preis versuchte, die in den Osten abgewanderten Auftraggeber zurückzuholen.
2006 verstarb Herr Hradil im 88. Lebensjahr.