Mein „Star“ in dieser Familiengeschichte ist meine Großmutter Julie. Als Kind war mir das unklar, was diese gebrechliche Frau in ihrem Leben alles geleistet haben muss aber da ich während meiner ersten zwanzig Lebensjahre mehr Zeit in ihrer Nähe verbrachte als mit sonst jemanden, ist es wenig verwunderlich, dass ich schließlich viel von ihrer Lebensart angenommen habe.
Sie lebte mit einer Art Naturreligion, war eine frühe Esoterikerin. Sie war an allen Ereignissen der Innen- und Außenpolitik interessiert. Sie kochte gern und freute sich, wenn es den Gästen schmeckte. Sie sprach nur gebrochen Deutsch aber sie war eine echte Österreicherin. Immerhin hat sie praktisch ihr ganzes Leben in Wien verbracht. Sie war das Zentrum der Familie. Wenn wer zu Besuch kam, dann besuchte er die „Juli-Tant“. Was ihr nicht behagte, war Müßiggang. Sie kannte nur eins: Arbeit und Pflicht.
Meine Großmutter Julie Pohanová war 18 Jahre als sie 1901 aus Mähren nach Wien zog. Ihr Bruder Jan/Johann war derjenige, der alle Schwestern zum „Deutschunterricht“ durch sein Geschäft in der Absberggasse im 10. Bezirk schleuste. Auf der einzigen Fotografie aus ihrer Jugendzeit kenne ich meine Großmutter noch mit langem Haar. Die Adresse des Fotografen ist im 10.Bezirk, also könnte sie in diesen Tagen noch bei meinem Großonkel Johann in der Absberggasse gelebt haben.
In ihrem Lebenslauf, den sie ihrem Antrag auf die österreichische Staatsbürgerschaft im Jahr 1949 beilegt, schreibt sie, dass sie danach in wechselnden Anstellungen tätig war. Sie soll auch Näherin, Wäscherin gewesen sein, hauptsächlich aber war sie Verkäuferin in verschiedenen Lebensmittelhandlungen. Julie war eine ernste Frau. An erster Stelle stand die Arbeit, Vergnügungen kannte sie nicht. Doch wird sie nicht immer so gewesen sein. In ihrer Jugend spielte sie auf einer Vorstadtbühne, in einem Wirtshaus, dessen Gebäude heute noch steht: beim Švagerka in der Kopalgasse 3. Dieses Wirtshaus war wahrscheinlich der zentrale Treffpunkt der Simmeringer Tschechen. Es gab dort auch eine Volksschule, die auch einige Kinder der Schwestern besuchten.Sie hielt im Grunde nichts von dem eher derben Typ des Schlossergehilfen Franz Kvaček. Sie selbst war voller ehrgeiziger Pläne und ein Schlosser war bei ihrer Karriere eher hinderlich. Dass sie dann schließlich 1912 doch heirateten, beruhte wieder auf einem ehrgeizigen Plan meiner Großmutter: ‚Sie wollte‘, so meine Tante Hanni während einer Autofahrt von Tschechien nach Wien, ‚aus meinem Großvater im Zuge der Ehe einen anständigen Menschen machen‘. Wahrscheinlich hat sie aber die legere Art meines Großvaters angesprochen, sie, die sie selbst kaum Humor verstanden hat oder verstehen wollte. Insofern fand sie in ihrem lebensfrohen Ehemann eine gute Ergänzung. Die Hochzeit fand in der neu gebauten Simmeringer Pfarrkirche statt, die ein Jahr zuvor in Anwesenheit von Kaiser Franz Josef eröffnet worden war.
Lang währte die Zweisamkeit nicht. Der erste Weltkrieg trennte Julie und Franz. Julie blieb mit Franz, dem 1915 geborenen Sohn zurück. Der Vater Franz gerät in Omsk in russische Gefangenschaft und kehrt erst 1920 zurück.
Dazwischen passierte ein tragisches Unglück. Sohn Franz bekam im Kriegsjahr 1916 Scharlach (oder Tuberkulose) und starb in den Armen seiner Mutter. Das Tragische an der Sache aber: Franz war in Spitalsbehandlung und Schwester Maria riet Julie, den Sohn auf eigene Verantwortung nach Hause zu nehmen, weil man meinte, ihn besser pflegen zu können. Und da passierte es, dass das Kind an einem Schleimpfropfen erstickte. Meine Großmutter machte sich zeitlebens schwerste Vorwürfe, dass sie dem Kind hätte aktiv den Schleim aus dem Mund entfernen müssen, doch es ist eben nicht passiert. Die Schwester fühlte sich mitverantwortlich am Tod des Kindes und bezahlte einen der schönsten Grabsteine am Simmeringer Friedhof für ein zukünftiges Familiengrab.Aus diesen Tagen ist eine Postkarte vom 25.10.1917 erhalten, in der Julie an ihren Schwager Matyas Klíma schrieb:
Teure Freunde, Ich teile Euch mit, daß Kvaček uns eine Fotografie geschickt hat. Er fragte schon einige Male nach unserer, so schicke ich ihm unser Foto aber ohne den Franzi. Es würde mich freuen, wenn er es mit Eurer Karte bekäme. Aber jetzt geht keine Post, wahrscheinlich kriegt er sie ohnehin nicht. Božena, wenn Du noch nicht beim Frank warst, gehe nicht hin, er hat schon geschrieben. Schreibt uns bald. Mit herzlichem Gruß Juli.
Julie wurde seither von einer unglaublichen Arbeitswut erfasst, mit der sie versuchte, dieses tragische Ereignis zu überwinden. Sie stand den ganzen Tag „hinter der Pudel“, wie man damals sagte und legte Schilling auf Schilling und brachte es zu erheblichem Wohlstand. Ihr Mann Franz arbeitete brav mit, die treibende Kraft aber war sie. Ihre 1921 geborene Tochter Martha, meine Mutter, relativierte den tragischen Tod ihres Sohnes und alle Kraft wurde jetzt in sie investiert. Martha war eine brave Tochter. Gute Zeugnisse berichten über diese Zeit. Erstaunlich war auch der Klavierunterricht. Sie spielte praktisch alles aus etwa zwölf „Sang und Klang“-Bänden des 19. Jahrhunderts vom Blatt. Dieses Klaviertraining war so gut, dass sie es sogar viele Jahre danach ohne jede Vorbereitung schaffte, diese Stücke wieder zu spielen. Die Geschäfte von Julie aber waren ihr Leben. Weder Weltwirtschaftskrise, noch Weltkrieg konnten ihren Unternehmungen etwas anhaben. Und wichtig waren auch die Menschen, mit denen sie zusammenarbeitete. Es ist überliefert, dass Julie sogar ein Kino in Süßenbrunn betrieben hat und diese Strecke zu Fuß zurückgelegt wurde.
Ich kannte meine Großmutter nur als einfache, etwas rundliche Frau, die kaum gehen konnte. So sehr hat sie das arbeitsreiche Leben mitgenommen.
Meine Großmutter überlebte meinen Großvater 10 Jahre. Jedes Jahr fuhr sie im Sommer nach Kritzendorf. Im Juli und August war ich bei ihr.
Julie und die Urbánek (aus Erzählungen von Antonie Pohanková, geb. Urbánek, notiert am 27. Juli 1989))
Julie wohnte mit ihrer alten Mutter in der Sedlitzkygasse 42 neben dem Festel-Haus. Auf Nummer 40 wohnten die Urbánek, ebenfalls Tschechen. Die beiden Familien kannten sich gut, weil Julie und die ältere Tochter der Urbánek, Antonia unweit voneinander geboren wurden. Antonia Urbánek war um zehn Jahre jünger als Julie und um sieben Jahre älter als die Tochter Martha, meine Mutter, also ein ideales Kindermädchen für Martha.
Antonia Urbánek war Verkäuferin in einem Lebensmittelgeschäft an der Ecke Sedlitzkygasse/Hauffgasse gegenüber von der Sedlitzkygasse 14 (das Haus, das drei Pohan-Schwestern später gemeinsam kauften). Julie ging dorthin einkaufen und sie wurden Freundinnen. Als Barbara, die Mutter von Julie, 1924 im Sterben lag, sagte sie zu Antonia: „Pass‘ auf das Mädel (Martha) auf.“ Die Mutter von Antonia Urbánek hatte wieder eine schwere Operation und bat Julie, sich um Antonia zu kümmern, falls ihr etwas zustoßen sollte. Und tatsächlich trat dieser Fall danach ein, auch die Mutter von Antonie starb nach der Operation. Julie plante, eine Filiale in Hernals zu eröffnen und Antonia dort als Geschäftsführerin einzusetzen. Doch dieser Plan ging nicht auf, daraus wurde nichts. Dagegen gab es dann eine andere Gelegenheit: Antonia wurde stattdessen Filialleiterin in der Hauffgasse 14 und Julie führte das Hauptgeschäft in der Grillgasse 35.Nach dem Krieg heiratete Antonia den Tschechen Pohanka und übersiedelte mit ihm nach Nýrsko im ehemaligen Sudetengebiet. Eigentlich wäre dort in Tschechien ein Geldbetrag für eine Geschäftsgründung vorbereitet gewesen, doch mit Kriegsende ist dieses Geld schlagartig ungültig geworden.
Diese Trennung der Familien durch den Eisernen Vorhang brachten es mit sich, dass Antonie erst wieder nach ihrer eigenen Pensionnierung nach Österreich kommen konnte. Sie wohnte oft sehr lange bei uns und half meiner Mutter in der Wohnung und auch im Geschäft.
Nach dem Krieg übergab meine Großmutter das Geschäft in der Grillgasse an meine Mutter. Mein Vater seinen Beruf als Kartonagenvertreter bei Firma Winter auf und arbeitete ab 1952 ebenfalls im Geschäft.
Das Bild
In der Küche im Holzhaus in Kritzendorf hing ein Familienbild meiner Großeltern.
Es fiel mir nie besonders auf, es war selbstverständlich, dass es da hing. Im letzten Jahr des Bestehens der Hütte wurde in der Hütte eingebrochen und möglicherweise das eine oder andere Erinnerungsstück an die Großeltern gestohlen, mit Sicherheit aber die Petroleumlampen, aber nicht das Bild, das war für die Diebe nichtssagend. Mein letzter Besuch in der Hütte war eine Verabschiedung und zugleich eine Suche nach eventuellen Resten. Ich wollte das Bild schon zurücklassen, da wir eine schönere Version zu Hause aufgehängt haben, dann dachte ich mir, es doch mitzunehmen, um es in die Bildersammlung mit aufzunehmen. Es hat sich gelohnt, denn auf der Rückseite des Bildes schrieb meine Großmutter Briefe an meinen verstorbenen Großvater in tschechischer Sprache, das ich hier übersetze. (Dazu muss man wissen, dass meine Großmutter immer schon eifersüchtig war auf die gesellige Art ihres Mannes. Sie selbst kannte nur die Arbeit und er „erntete“ sozusagen den Beifall.
So vermutete sie auch, dass mein Großvater in Kritzendorf, wohin sie ihn ja 1938 „verbannt“ hatte, eine Freundin gehabt haben muss.):
‚einen Brief an den Mond‘, geschrieben von meiner Großmutter im Todesjahr meines Großvaters, zumindest den Beginn am 12.5.1958 am Deckkarton: ‚Für Sie ist er gestorben damit er für mich länger lebt‘. ’nicht Gott hat uns geschieden, menschliche Macht hat uns geschieden 12.5.1953′
‚Opa, ob es Dir wohl der Mond schon ausgerichtet hat…ich wünsche jeden Tag allen eine gute Nacht…für mich bist Du nicht wirklich gestorben…solange Du gelebt hast, lebtest Du für eine andere…jetzt erst lebst Du für mich…warum hast Du Dich gefürchtet, es Marta zu sagen?…wie hätten wir alle drei leben können…auch sie wird vom Leben nichts haben.‘
dann mit Kugelschreiber: ‚Opa schlaf‘ gut‘
und auf einem karierten Papier, welches mit Klebeband auf der Rückseite festgeklebt war: ‚Opa, alles habe ich Dir verziehen, obwohl Du selbst nicht das Wörtchen „verzeih“ gefunden hast…nur ein einziges Wort meinerseits war unverzeihlich, vielleicht ist Dir deshalb kalt dort: damit Dir dort warm ist und Du leicht schläfst, verzeihe ich Dir auch das. Ich richte es Dir über den Mond aus, den Du so gerne hattest, vielleicht wirst Du es spüren. Martha vergöttert Dich… kommt mich noch nicht holen, sie braucht mich noch, grüße alle dort oben‘
Zu diesen Dokumentationen der Gefühle meiner Großeltern zueinander und zu ihrer Tochter muss nicht mehr viel hinzugefügt werden. Der einfache, an Bilder geheftete Glauben meiner Großmutter wird an noch einem Bild deutlich. Auf ein Passbild meines Großvaters, das auch von ihm unterschrieben wurde schreibt sie:
‚warum hast Du mir nicht die Hand gegeben, damit sich die Schlucht zwischen uns schließt‘
‚der Garten war unser Unglück, und trotzdem wirds mir gerade dort leichter sein‘
und auf der Rückseite:
‚wie kann ich den Garten gern haben, wenn sie uns entzweit hat…warum hast Du mir nichts gesagt, warum beneidest(?) Du mich so, wie hätten wir (…) leben können, irgendein Irrglaube, der mir so fern war, wie der Nord- vom Südpol‘
Artefakte
Es nicht untypisch für meine Großmutter, dass wir von ihr keinen Gegenstand benennen können, der mit ihr zusammenhängt. Sie besaß auch kaum etwas persönlich. Sie war die Einfachheit in Person. Sie hatte keinen Schmuck, keine Wertgegenstände, keine persönlichen Interessen (außer die Politik). Ihr Leben bestand nur aus Arbeit – für andere.